U. Altermatt: Bundesratswahlen

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Titel
Bundesratswahlen. Der lange Weg zum historischen Kompromiss. Der schweizerische Bundesrat 1884–1900: Referendumsstürme, Ministeranarchie, Unglücksfälle


Autor(en)
Altermatt, Urs
Erschienen
Zürich 2021: NZZ Libro
Anzahl Seiten
264 S.
von
Markus Furrer, Institut für Geschichtsdidaktik und Erinnerungskulturen, Pädagogische Hochschule Luzern

Urs Altermatt legt im Anschluss an seinen ersten Band Vom Unruheherd zur stabilen Republik eine weitere Studie zum «schweizerischen Bundesrat» mit dem Titel Der lange Weg zum historischen Kompromiss von 1874 bis 1900 vor. In diesen prägenden Dekaden des letzten Viertels des 19. Jahrhunderts vollzog sich ein fundamentaler Transformationsprozess der modernen Schweiz, bei dem wichtige Weichenstellungen erfolgten, die das Regierungssystem des Landes bis zur Gegenwart fundamental prägten. Grundlage dieser Studie bilden, wie für die vorangehende, die Einzelporträts im Bundesratslexikon von 2019.
Die Studie setzt bei der Bundesverfassungsreform von 1874 an, die für eine eigentliche Zä¬sur im jungen Bundesstaat steht, erhielt doch der lockere Bund von 1848 neue Kompetenzen, was insbesondere zu einer Departementalisierung mit Folgen für die Kollegialregierung führte. Die als chronologische Längsperspektive angelegte Studie endet mit der Bundesratsgeschichte um 1900. Das Buch, das eine wichtige Zeitspanne der Entwicklung des modernen Bundesstaats ausleuchtet, ist in drei Hauptkapitel unterteilt: Ein erstes widmet sich den sogenannten «MitteLiberalen», die zwischen 1875 und 1885 auf dem Höhepunkt der Macht waren. Im anschliessenden Teil zum «historischen Kompromiss» von 1891 wird gezeigt, wie sich der Wandel im Parteiensystem vollzog und wie dieser mit der Wahl des ersten katholisch-konservativen Bundesrats verbunden war. Im anschliessenden «nationalen Schulterschluss» führt uns der Autor in die Belle Époque der «bürgerlichen Schweiz» – und dies stets aus der Perspektive und Analyse der Bundesratsgeschichte. In der Schlussbilanz wird deutlich, wie sich das Bundesratskollegium in diesem Vierteljahrhundert entwickelt hat und welche Mechanismen und Eigenheiten sich auch mit ungeschriebenen Gesetzen in der Bundesregierung herausbildeten. Aus dieser Darstellung sind hier einige Akzente herausgegriffen: Die Niederlage bei der Verfassungsrevision von 1874 hatte für die Katholisch-Konservativen weitreichendere Folgen als diejenige von 1847, so die Bilanz von Urs Altermatt. Die Revisionsbefürworter unter der Führung des liberalen Bundesrats Welti und des radikalen Nationalrats Ruchonnet erlangten ihre Macht dieses Mal nicht auf militärischem, sondern demokratischem Weg, indem es ihnen in einem hochemotionalisierten Abstimmungskampf gelang, die katholisch-konservative Opposition von den protestantisch-konservativen Allianzpartnern zu trennen, die 1872 noch einen ersten Revisionsversuch zusammen abgewehrt hatten. Die Katho-lisch-Konservativen, die die politische Herrschaft in den Sonderbundskantonen nach 1848 sukzessive wieder ausbauen konnten, sahen sich nun angesichts des Ausbaus von Bundeskompetenzen ihres Erfolgs bedroht. Da jedoch parallel die Volksrechte (1874 Gesetzesreferendum und 1891 Verfassungsinitiative) ausgeweitet wurden, veränderte dies die politische Ausgangslage grundlegend. Der Autor zeigt, wie die Referendumsstürme die Bundesratswahlen beeinflussten und wie sich die Strategieänderungen auf die Regierungsparteien auswirkten. Die «Exklusionsstrategie», die den Ausschluss der katholisch-konservativen Opposition beabsich-tigte, begann zu bröckeln, so dass sich eine «neue Bundesratsformel» herausbilden konnte. So wurden die 1870er- und 1880er-Jahre zu einer eigentlichen «Schlüsselzeit» und die Volksrechte wirkten als Motoren und Katalysatoren der nationalen Parteibildungen. Der Prozess mündete im «Schlüsselereignis» der Bundesratswahlgeschichte von 1891. Die Katholisch-Konservativen lösten die Liberalen in der seit 1848 bestehenden Zwei-Parteien-Regierungskoalition ab. Hier setzt eine Kernthese der Untersuchungen an, die Urs Altermatt bereits im vorangehenden Band dargelegt hat und weiterführt. Sie widerlegt das populäre Geschichtsbild vom parteipolitisch bis 1891 angeblich homogenen Bundesrat und das unscharfe Bild der «freisinnigen Grossfamilie» als Konstruktion. So war die Parteienlandschaft des neuen Bundesstaates «vielfältiger, als dies das binäre Geschichtsbild suggeriert» (S. 169). Altermatt korrigiert denn auch im Nachhinein die Bundesratsstatistiken und weist auf den zeitgenössischen Diskurs hin, der zeigt, dass die «liberale Mitte» bzw. «das Zentrum» als eigenständige Fraktion bei den Bundesratswahlen agierte und sich Bundesräte wie Paul Cérésole, Bernhard Hammer, Joachim Heer oder Gustave Ador weder kantonal noch national zu den Radikalen (später dann FDP) zählten.
Kam es in den stürmischen Jahren nach der Bundesstaatsgründung noch zu Abwahlen von Bundesräten im Amt, so wurden nach 1884 alle Bundesräte, die sich zur Wiederwahl stellten, im ersten Wahlgang wiedergewählt. Die Erneuerungswahlen bekamen nach der Wahl des katholisch-konservativen Josef Zemp 1891 einen rituellen Charakter und wurden zu Beliebtheitstests. Gewählt wurde in der Abfolge der Anciennität. Erst 2003 und 2007 kam es wieder zu Abwahlen von Bundesräten, was den aktuellen Bruch auszeichnet und darauf verweist, dass das Regierungssystem im Wandel ist.
1874 endete ferner eine Art «Zweiklassensystem» im Gremium und alle Bundesräte hatten fortan im Rahmen einer damals noch offenen Reihenfolge die Chance, Bundespräsident zu werden. Und ab 1893 – was eine weitere wichtige Erkenntnis dieser Studie darstellt – begann sich die sogenannte Anciennitätsregel durchzusetzen, was sich nach dem Eintritt des ersten katholischkonservativen Vertreters in den Bundesrat 1891 mit der Formierung festorganisierter Landesparteien und dem disziplinierteren Stimmverhalten der Fraktionen erklären lässt. Es verschwanden damit auch die eigentlichen «Bundesratskönige», von denen Emil Welti nach Einschätzung von Urs Altermatt der letzte war. Mit der Stabilisierung des Bundesstaats und der Bürokratisierung der Verwaltung verschwand also dieser Führertyp. Mit dem «System Droz», bei dem die Aussenpolitik vom Bundespräsidium entkoppelt worden ist, verlor dieses Amt ferner an Gewicht und der Bundespräsident wurde zum «Primus inter pares». Ihm verblieben die Leitung der Bundesratssitzungen wie auch die repräsentativen Aufgaben im Inland und bei Staatsbesuchen. Es war auch bereits in dieser Zeit, in der sich Vorstellungen von Kollegialität und Egalität des Gremiums im öffentlichen Bewusstsein verfestigten und zum helvetischen Ideal stilisiert wurden. Paradoxerweise geriet aber das Kollegialitätsprinzip just in dieser Phase als Folge der Departementalisierung unter Druck, da Bundesräte immer mehr zu Fachministern und Verwaltern des eigenen Departements wurden, die kaum mehr Zeit fanden, über strategische Belange im Kollegium zu diskutieren. Dabei setzte sich im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts im Bundesrat die gegenseitige Nichteinmischung als eine Art Verhaltenskodex durch. Bereits damals war den Zeitgenossen bewusst, dass das Gesamtkollegium nicht mehr im Sinne der Gründerväter funktionierte und Reformen nötig wären. Allerdings – und das scheint sich auch bis in die Gegenwart zu ziehen – war das Gremium nur mehr für Minireformen bereit und so bleibt das Spannungsverhältnis zwischen Kollegial- und Departementalprinzip bis heute bestehen. Vor allem in den Krisen der jüngsten Vergangenheit und Gegenwart erwartet man vom Bundesrat, dass er als geeinte Kollegialbehörde gegen aussen auftritt und stört sich ob Indiskretionen, eigenmächtigen Ankündigungen, fehlenden Absprachen oder gar Sololäufen. Das scheint und dürfte jedoch weniger ein Problem der individuellen Zusammensetzung des Rates zu sein, sondern ist mit Blick auf die vorliegende Studie historisch zu erklären. Diese verdeutlicht nämlich, wie sich Eigenheiten des Bundesrats herausgebildet haben und das Regierungsgremium über die Zeit seine Rolle fand und wie sich relativ kleine Akzentverschiebungen auf die Regierungszusammenarbeit konkret auswirken. Offensichtlich wird so, dass die seit zwei Dekaden mögliche bzw. praktizierte Abwahl amtierender Bundesrätinnen und Bundesräte nicht ohne weitere Wirkungen bleibt.

Zitierweise:
Furrer Markus: Rezension zu: Altermatt, Urs: Der lange Weg zum historischen Kompromiss. Der schweizerische Bundesrat 1874–1900. Referendumsstürme, Ministeranarchie, Unglücksfälle, Basel 2021. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte, Vol. 116, 2022, S. 473-475. Online: https://doi.org/10.24894/2673-3641.00127

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